Warum wurde Belgien ein Föderalstaat?

Artikel 1 der belgischen Verfassung: "Belgien ist ein Föderalstaat, der sich aus den Gemeinschaften und den Regionen zusammensetzt." Doch was bedeutet das konkret?

Nach der Staatsgründung 1830 wurde Belgien ein dezentraler Einheitsstaat nach französischem Vorbild. Französisch war die Landessprache.

Die Flamen bildeten allerdings die Mehrheit der belgischen Einwohner. In der flämischen Bewegung kämpften sie quasi ab dem Zeitpunkt der Staatsgründung dafür, dass die niederländische Sprache und die flämische Kultur gleichgestellt wurden.

Wirtschaftlich gesehen, besaß das französischsprachige Wallonien (Industriebecken von Lüttich-Charleroi-Mons) im 19. Jahrhundert eine ungleich höhere Leistungskraft als das ländliche Flandern. Die Wallonie musste aber im 20. Jahrhundert den Niedergang seiner Schwerindustrie hinnehmen. Deshalb kämpfte die wallonische Bewegung in erster Linie für regional-ökonomische Eigenständigkeit, um seine wirtschaftspolitischen Grundlagen autonom gestalten zu können.

In den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts geriet die Entwicklung Belgiens in eine Stromschnelle. Politisch, wirtschaftlich und intellektuell driftete das Land auseinander.

Andererseits wurde aber in dieser Zeit das Fundament für ein friedliches Zusammenleben von Flamen und Wallonen gelegt. 1962-1963 wurde Belgien in vier Sprachgebiete aufgeteilt. Später, ab Anfang der 70er Jahre, folgte etappenweise die Föderalisierung des Landes.

Asymmetrisch und komplex, aber nicht unlogisch

Die Föderalisierung brachte Belgien zwei gliedstaatliche Ebenen: die Gemeinschaften und die Regionen. Die Gemeinschaften und Regionen sind als politische Instanzen für unterschiedliche Sachbereiche zuständig.

Komplex ist das belgische gliedstaatliche Modell vor allem deshalb, weil die Territorien der Gemeinschaften und der Regionen nicht miteinander übereinstimmen. Die asymmetrische Gebietszuteilung geht auf die besonderen Herausforderungen zurück, die Belgiens Politik bei der Umwandlung des Landes in einen Bundesstaat bewältigen musste:

  • eine Lösung für die sprachlich-kulturellen Gleichstellungsansprüche Flanderns

  • eine Lösung für die wirtschaftspolitischen Autonomieansprüche Walloniens

  • ein ausgefeilter Kompromiss für die Hauptstadt Brüssel; dieser Kompromiss musste gleichermaßen den Französischsprachigen und den Flamen gerecht werden.

Die Kompetenzaufteilung zwischen Föderalstaat, Gemeinschaften und Regionen ist allerdings wesentlich einfacher aufgebaut als in anderen europäischen Bundesstaaten. In den jeweiligen Zuständigkeitsbereichen gibt es kaum konkurrierende Materien.

Die föderalstaatlichen und die gliedstaatlichen Ebenen nehmen ihre Kompetenzen im Prinzip jeweils mit einem eigenen Parlaments- und Regierungssystem sowie einem eigenständigen Verwaltungsunterbau wahr. Dabei genießen der Föderalstaat, die Gemeinschaften und Regionen in ihren Zuständigkeitsbereichen eine sehr große Entscheidungsfreiheit.

Der Föderalisierungsprozess Belgiens dauert seit der 1. Staatsreform 1968-1971 an und kann bis heute nicht als beendet betrachtet werden.

Föderalisierung

 

Unter Föderalisierung versteht man den Wandel eines Einheitstaats in ein bundesstaatliches Modell. Die Föderalisierung soll den Regionen mehr Autonomie gegenüber der Zentralregierung geben.