Sitzung vom 2. Juni 2022

Dekretvorentwurf zur Schaffung eines Beirats für Menschen mit Unterstützungsbedarf

1. Beschlussfassung: 

Die Regierung verabschiedet in zweiter Lesung den Dekretvorentwurf zur Schaffung eines Beirats für Menschen mit Unterstützungsbedarf.

Die Regierung beschließt, in Anwendung von Artikel 84 §1 Absatz 1 Nummer 2 der koordinierten Gesetze über den Staatsrat vom 12. Januar 1973 das Gutachten in einer 30-Tages-Frist zu beantragen.

Der Vize-Ministerpräsident, Minister für Gesundheit und Soziales, Raumordnung und Wohnungswesen wird mit der Durchführung des vorliegenden Beschlusses beauftragt.

2. Erläuterungen: 

Durch diesen Dekretvorentwurf wird in Ausführung des Übereinkommens der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen ein Beirat für Menschen mit Unterstützungsbedarf geschaffen, mit dem Ziel diese Menschen aktiv bei der Umsetzung des Übereinkommens einzubeziehen.

Das Parlament der Deutschsprachigen Gemeinschaft verabschiedete am 11. Mai 2009 das Dekret zur Zustimmung zum Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen und zu dessen Fakultativprotokoll, geschehen zu New York am 13. Dezember 2006. Die belgische Ratifikation erfolgte am 2. Juli 2009. Damit bekräftigten sowohl Parlamente als auch Regierungen, dass der Aufbau einer inklusiven Gesellschaft, an der Menschen mit Behinderungen aktiv teilnehmen können, höchste Priorität hat. Das Übereinkommen verpflichtet die Vertragsstaaten in zwei Artikeln u.a. dazu, Menschen mit Behinderungen in die Gesetzgebung und Formulierung von Konzepten, die sie betreffen, sowie in die Überwachung der Durchführung des Übereinkommens, einzubeziehen. 

Artikel 4 Absatz 3 des Übereinkommens sieht Folgendes vor: „Bei der Ausarbeitung und Umsetzung von Rechtsvorschriften und politischen Konzepten zur Durchführung dieses Übereinkommens und bei anderen Entscheidungsprozessen in Fragen, die Menschen mit Behinderungen betreffen, führen die Vertragsstaaten mit den Menschen mit Behinderungen, einschließlich Kindern mit Behinderungen, über die sie vertretenden Organisationen enge Konsultationen und beziehen sie aktiv ein.“ Menschen mit Behinderungen sollen somit immer einbezogen werden, wenn die Staaten Maßnahmen zur Umsetzung des o.e. Übereinkommens treffen. Das Recht auf Partizipation ist nach Auffassung des Ausschusses der Vereinten Nationen für die Rechte von Menschen mit Behinderungen ein bürgerliches und politisches Recht, das unmittelbar angewendet werden muss.

Artikel 33 regelt die innerstaatliche Durchführung des Übereinkommens und die Überwachung dieser Durchführung. Dazu gehört gemäß Artikel 33 Absätze 1 und 2 die Bestimmung staatlicher Anlaufstellen sowie die Schaffung oder Bestimmung einer Struktur, die einen oder mehrere unabhängige Mechanismen umfasst. In der Deutschsprachigen Gemeinschaft wird diese Aufgabe von der Dienststelle der Deutschsprachigen Gemeinschaft für selbstbestimmtes Leben (DSL) wahrgenommen. Absatz 3 dieses Artikels besagt zudem Folgendes: „Die Zivilgesellschaft, insbesondere Menschen mit Behinderungen und die sie vertretenden Organisationen, wird in den Überwachungsprozess einbezogen und nimmt in vollem Umfang daran teil.“ 

Artikel 33 Absatz 3 ist daher als Ergänzung zu Artikel 4 Absatz 3 zu verstehen. Der Ausschuss der Vereinten Nationen für die Rechte von Menschen mit Behinderungen ermutigt Organisationen von oder für Menschen mit Behinderungen an den Staatenberichtsverfahren teilzunehmen. Die Organisationen können schriftliche Stellungnahmen einreichen und der Ausschuss kann sie zu seinen Sitzungen einladen, um einen Dialog über die Umsetzung der Konvention durch die Staaten zu ermöglichen.

Organisationen von oder für Menschen mit Unterstützungsbedarf können zudem im Rahmen der Verfahren zur Erarbeitung von sogenannten „General Comments“, das heißt Allgemeinen Bemerkungen, sowie im Rahmen individueller Verfahren im Beschwerdemechanismus, Stellungnahmen abgeben. Die Verpflichtung zur Beteiligung von Menschen mit Behinderungen an der Umsetzung und Überwachung der Konvention steht in einem engen thematischen Zusammenhang mit dem Recht auf Teilhabe am politischen und öffentlichen Leben (Artikel 29) und insbesondere dessen Punkt b, welcher die Staaten verpflichtet, aktiv ein Umfeld zu fördern, in dem Menschen mit Behinderungen gleichberechtigt und ohne Diskriminierung mit anderen wirksam und umfassend an der Gestaltung der öffentlichen Angelegenheiten mitwirken können. Es besteht somit eine positive Pflicht der Staaten Maßnahmen zu treffen, um die Ausübung dieses Rechts zu gewährleisten und insbesondere durch „angemessene Vorkehrungen“ sicherzustellen, dass Personen mit Behinderungen in der Lage sind dieses Recht aktiv wahrzunehmen.

In Ausführung dieser Bestimmungen hat die DSL die Initiative ergriffen, Vertreter der in der Deutschsprachigen Gemeinschaft aktiven Vereinigungen von und für Menschen mit Unterstützungsbedarf regelmäßig zu Versammlungen einzuladen, bei denen sie zu Entwürfen von Regelungen befragt und über anstehende Maßnahmen informiert wurden.

Dieser faktische Verbund erhielt den Namen „Kleines Forum“ in Anlehnung an das Europäische Forum für Menschen mit Behinderungen. Das „Kleine Forum“ trat dem Belgischen Disability Forum (BDF) bei, dem belgischen Konsultationsgremium auf föderaler Ebene. Dies hatte zur Folge, dass ein ständiger Vertreter in das BDF entsandt werden konnte. 

Bisher wurde die Organisation der Zusammenkünfte des „Kleinen Forums“ mit Dienststelle und Regierung von der DSL gewährleistet. Die DSL stellte auch das Sekretariat bei diesen Treffen und zahlte die jährlichen Beiträge für die Mitgliedschaft im BDF.

Von behördlicher Seite wie von Seiten der Vereinigungen bestand jedoch immer das Bestreben, eine Form und Grundlage zu finden, die es den Vereinigungen von und für Menschen mit Unterstützungsbedarf in der Deutschsprachigen Gemeinschaft ermöglichen würden, den Konsultationsprozess entsprechend den Bestimmungen der UN-Konvention unabhängig zu gestalten. Dies gilt vor allem vor dem Hintergrund, dass es sich in der Deutschsprachigen Gemeinschaft eher um kleine Vereinigungen handelt, die weder über die personellen noch materiellen Mittel verfügen, um derlei Aufgaben schaffen zu können. 

Darüber hinaus betreffen Themen bezüglich Menschen mit Unterstützungsbedarf alle Bereiche des täglichen Lebens, dazu gehören unter anderem Information, Beschäftigung, Wohnen, Bildung, Kultur, Mobilität und Transport, Sport und Freizeit. Es handelt sich somit um eine bereichsübergreifende Herausforderung für alle zuständigen Stellen. 

Es bedarf daher eines Konsultationsgremiums, das eigenständig und unabhängig die Sicht der Zivilgesellschaft zu den Herausforderungen der Menschen mit Unterstützungsbedarf in der Bewältigung ihres Alltags wiedergeben kann. Um dies zu gewährleisten, soll ein Beirat geschaffen werden, der in der Lage ist, einen breiteren Aufgabenbereich wahrzunehmen und der durch zeitnahe Gutachten und Stellungnahmen zu Gesetzen, Regelungen und Maßnahmen die Interessen und Bedarfe der Menschen mit Unterstützungsbedarf formuliert. Dieses Gremium soll strukturell in politische Entscheidungsprozesse einbezogen werden können und ständiger Ansprechpartner für Regierung und Behörden sein. Des Weiteren soll der Beirat durch die Sensibilisierung der Öffentlichkeit für die Lebensbedingungen von Menschen mit Unterstützungsbedarf deren Inklusion in der Deutschsprachigen Gemeinschaft weiter fördern.

Der vorliegende Dekretvorentwurf stellt die rechtliche Grundlage dieses Vorhabens dar und wurde unter Einbeziehung der Vertreter der Vereinigungen von und für Menschen mit Unterstützungsbedarf erstellt.

Der Verwaltungsrat der Dienststelle begrüßt in seinem Gutachten vom 29. März 2022 den Dekretvorentwurf. In seinem Gutachten schlägt der Verwaltungsrat dennoch zwei Änderungen vor.  

Der erste Änderungsvorschlag bezieht sich auf die im Dekret verwiesene besondere Bindung des Beirates zur Dienststelle. Von Seiten der Dienststelle sind die Unabhängigkeit des Beirates und die strikte Trennung deontologisch notwendig, um gewährleisten zu können, dass die Dienststelle ihre Aufgaben im geschützten Rahmen wahrnehmen kann, die ihr gemäß dem Dekret vom 13. Dezember 2016 sowie weiteren Rechtsgrundlagen insbesondere in der Begleitung von Menschen mit Unterstützungsbedarf zufallen. Die Dienststelle sieht demnach die im Kommentar aufgeführten Beispiele mit Blick auf die Dienststelle selbst kritisch und bemerkt, dass der Beirat eine Vereinbarung bzgl. der Räumlichkeiten, das Sekretariat, die Buchhaltung, usw. sicherlich mit vergleichbaren Organisationen der Zivilgesellschaft abschließen könne, jedoch aus den vorgenannten Gründen nicht mit der Dienststelle. Gleichzeitig stellt die Dienststelle die grundsätzliche Möglichkeit einer Vereinbarung zwischen dem Beirat und der Dienststelle und/oder anderen Partnern, wie beispielsweise dem Ministerium, bei der gemeinsamen Durchführung von Informations- oder Sensibilisierungsmaßnahmen jedoch nicht in Frage. Die Dienststelle würde beispielsweise gerne das Sensibilisierungsprojekt DG Inklusiv durch eine Vereinbarung an den Beirat übertragen. Auf Grundlage der vorhergehenden Bemerkungen wurde der spezifische Verweis auf die Dienststelle daher sowohl im verfügenden Teil des Dekretvorentwurfs als auch in den Kommentaren zum Dekret gestrichen.

Der zweite Änderungsvorschlag bezieht sich auf die ursprüngliche Namensgebung des Beirates „für Menschen mit Beeinträchtigung“. Der Verwaltungsrat schlägt vor diese umzuändern in Beirat „für Menschen mit Unterstützungsbedarf“. Der Verwaltungsrat begründet dies damit, dass neben den medizinischen Ursachen, Auswirkungen und Begleiterkrankungen der Beeinträchtigung auch ein besonderes Augenmerk auf das Geschlecht, das Alter, die Herkunft, sie sexuelle Orientierung, die Geschlechtsidentität und andere Merkmale gerichtet werden muss, die zusätzlich dazu beitragen können, dass Menschen mit Unterstützungsbedarf an ihrer vollen und gleichberechtigten Teilhabe gehindert werden. Exemplarisch weist der Verwaltungsrat auf das Thema Alter hin, da man im Alter zumindest vergleichbaren Herausforderungen und Barrieren gegenübersteht wie Personen, die diese Bedarfe früher entwickelt haben. Zudem weist der Verwaltungsrat darauf hin, dass derzeit auch ein demographischer Wandel innerhalb der Gruppe der Menschen mit Unterstützungsbedarf stattfindet. Durch medizinische Entwicklungen steigt die Lebenserwartung teils drastisch und das Zielpublikum entwickelt sich verstärkt in Richtung mehrfacher und komplexer Unterstützungsbedarfe. Gleichzeitig weisen wissenschaftliche Erkenntnisse auch auf ein deutlich früheres Auftreten gewisser Alterserkrankungen in dieser Gruppe hin. Der Übergang von der Gruppe der jüngeren Menschen mit Unterstützungsbedarf hin zur Gruppe der Senioren mit Unterstützungsbedarf ist somit fließend. Vor diesem Hintergrund erachtet der Verwaltungsrat eine terminologische Anpassung an die gängige ostbelgische Terminologie als zwingend erforderlich. Dies erfordert sicherlich eine enge Abstimmung des Beirates mit anderen, insbesondere zielgruppenspezifischen Beiräten und der Zivilgesellschaft in der Deutschsprachigen Gemeinschaft, da hier zwangsläufig thematische Schnittmengen sein werden. Auch der zweite Abänderungsvorschlag der Dienststelle wurde im Dekretvorentwurf berücksichtigt.

3. Finanzielle Auswirkungen:

Zur Wahrnehmung seiner Aufgaben verfügt der Beirat für Menschen mit Unterstützungsbedarf über einen zu diesem Zweck im Haushalt der Deutschsprachigen Gemeinschaft vorgesehene Dotation in Höhe von mindestens 70.000 Euro. 

Die finanziellen Mittel sind zweckgebunden. Sie können für Personal-, Funktions- und Infrastrukturkosten verwendet werden. 

Der Beirat für Menschen mit Unterstützungsbedarf darf eigene Mittel generieren sowie Schenkungen und Legate erhalten.

4. Gutachten: 

  • Das Gutachten des Verwaltungsrates der Dienststelle der Deutschsprachigen Gemeinschaft für selbstbestimmtes Leben vom 29. März 2022 liegt vor.  
  • Das Gutachten des Finanzinspektors vom 16. Mai 2022 liegt vor. 
  • Das Einverständnis des Ministerpräsidenten, zuständig für den Haushalt, vom 18. Mai 2022 liegt vor  

5. Rechtsgrundlage: 

  • Artikel 5 §1 II. Nummer 4 des Sondergesetzes vom 8. August 1980 zur Reform der Institutionen. 
  • Artikel 4 §2 des Gesetzes vom 31. Dezember 1983 über institutionelle Reformen für die Deutschsprachige Gemeinschaft. 
  • Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen der Vereinten Nationen vom 13. Dezember 2006 sowie dessen Fakultativprotokoll, geschehen zu New York am 13. Dezember 2006.